Das doppelte Lottchen

Fahrimpressionen R 100 GS (1987) vs. R nineT Urban G/S Edition „40 Years GS“© Ulf Böhringer

Ein Rückblick auf 40 Jahre GS

Fahrimpressionen R 100 GS (1987) vs. R nineT Urban G/S Edition „40 Years GS“
BMW hat zum 40. Geburtstag der Boxer-GS die R nineT Urban G/S in ein Jubiläumsgewand gesteckt. Wie schlägt sich die weit schwächere R 100 GS von 1987 in eben dieser Farbgebung gegen das schicke Retro-Bike mit der topmodernen Technik? Zum ersten persönlichen Kontakt mit einer BMW GS kam es im November 1991. Vor nunmehr 30 Jahren stand ein Geländetraining im Norden Spaniens auf dem Programm. Die Münchner BMW-Niederlassung führt es für ihre Kunden durch, damit diese ihre Ge-essen einmal artgerecht bewegen konnten. Der Autor war als Gast geladen; er war zwar nicht mehr jung an Jahren, aber im Beruf eines Motorradjournalisten noch eher unerfahren. Und auch als Fahrer durchaus noch entwicklungsfähig. Einer der Kunden, die sich eingebucht hatten, war Manfred; damals gerade 26. Er hatte sich seine R 100 GS im Herbst 1990 gekauft, als 10.000 Kilometer junges Gebrauchtfahrzeug.

 

Italienische Irritationen

Die zweite GS-Generation, die ohne Strich zwischen dem G und dem S, war erst im August 1987 der Presse vorgestellt worden, in Florenz. Schwarz-gelb waren die Testfahrzeuge, und sie irritierten die Italiener, war diese Farbkombination dort im Land nur für Leichenwagen üblich. Selbst die Sitzbank war zweifarbig; vorne gelb und hinten schwarz. Auch Manfred kaufte eine Schwarz-Gelbe. Diese Farben trägt sie auch heute noch, wobei der die Farbintensität des Fahrersitzes etwas gelitten hat. Ganz original ist sie auch nicht mehr, hat ihr Besitzer sie doch im Laufe von gut 30 Jahren auf seine Bedürfnisse hin optimiert. Vis-a-vis von diesem Originalfahrzeug – Km-Stand heute 184.908 – steht eine vor wenigen Monaten vom Berliner Produktionsband gerollte R nineT Urban G/S. Ebenfalls in Schwarz-Gelb. Diese Farbgebung ist der Edition „40 Years GS“ vorbehalten. Denn Ende 1980 hatte die Auslieferung der ersten R 80 G/S begonnen. Sie war die Urmutter einer Baureihe, die sich im Lauf der Jahrzehnte zum größten Erfolg von BMW Motorrad entwickeln sollte. Wie schlägt sich eine gut 30 Jahre alte GS gegen den Retro-Jungspund?

G/S – Gelände und Straße

G/S – dies vorneweg – stand und steht auch heute noch als GS für die beiden Worte „Gelände“ und „Straße“. Sie sollten die Botschaft an die Kunden transportieren, dass dieses Motorrad beides beherrscht. Was seinerzeit galt und auch heute noch gilt. Letzteres mit einem „aber“, doch dazu gleich mehr. Erst mal die Vorstellung. Die Papierdaten geben der alten Lady keine Chance: 980 Kubikzentimeter gegen 1.170 Kubik, 60 PS gegen 109. Auch beim maximalen Drehmoment liegen Welten zwischen beiden: 76 Nm bei 3.750/min. stehen auf verlorenem Posten gegen 116 Nm bei 6.000/min. Die Kurven verlaufen meilenweit voneinander entfernt. Nur beim Gewicht kann die Tausender des Baujahres 1987 punkten: Mit 220 Kilogramm ist sie allerdings auch nur um ein Kilo leichter als die schicke Nach-Nach-Nachfolgerin. Was die R nineT Urban G/S aber in Wahrheit gar nicht ist, auch wenn ihre Farbgebung es suggerieren mag: Denn mit vorn 125 und hinten nur 140 Millimetern Federweg steht sie gegen die 225 mm vorne und 180 mm hinten der R 100 GS klar im Abseits. Die war eine richtige Reiseenduro, hart im Austeilen, aber auch extrem hart im Nehmen. Die R nineT entpuppt sich im Laufe des Fahrvergleiches als jung, soft und urban. Sie kann bestens flanieren, hat ausgezeichnete Manieren, ein gewandtes, umgängliches Wesen, aber keine wirkliche Enduro-Eignung. Dagegen steht die alte GS: Ein harter Hund, gelenkig einerseits und doch etwas hüftsteif, knackig, direkt, geerdet.

Vom felsigen Terrain zum staubigen Feldweg

Nichts nahm sie übel seinerzeit in Spanien: Keine Stürze im Tiefsand der Mittelmeerstrände, keine Purzelbaum-Abstürze über felsdurchsetzte Abhänge. Acht Männerhände und ein paar „Hau Ruck!“ schafften sie wieder nach oben. Der Zweizylinder-Boxer sprang auf den zweiten Knopfdruck wieder an, und weiter ging’s. Sie war ein beliebter Rabauke: Die R 100 GS, gebaut von 1987 bis 1994, kam auf 29.806 Einheiten; dazu addieren sich gut 10.000 Exemplare mit dem nur 50 PS leistenden Achthunderter-Boxer, der schon in der R 80 G/S Verwendung gefunden hatte. Von ihr rollten zwischen 1980 und 1987 exakt 25.643 Stück auf die Straßen der Welt. Damals ein riesiger Erfolg für BMW – im Rückblick jedoch ein bescheidener: Heutzutage werden alljährlich mehr als 50.000 Einheiten der R 1250 GS produziert.
Aber zurück zu unseren beiden gelb-schwarz lackierten Kontrahentinnen. Sie sind, genau genommen, nur Schwestern im Geiste. Derb-bieder die alte, jung und smart die neue G/S, die ihre eher in der Stadt nützlichen Eigenschaften ja schon im Namen trägt: Örben… Klar, Feldwege packt sie weg wie nix, sollten ihr aber solche Zumutungen vors Vorderrad kommen wie der alten Dame seinerzeit in Spanien, würde sie verweigern wie ein Rennpferd vor einem Zweimeter-Oxer. Andererseits hat sie einen technischen Standard erreicht, von dem man fast 35 Jahre zuvor noch nicht einmal träumen konnte: Ein schräglagenoptimiertes ABS lässt es sogar zu, in voller Schräglage in die Eisen zu gehen, ohne auf der Stelle abzufliegen. Das täte man mit der R 100 GS. Aber das wusste jeder, und deshalb hat man’s auch nie getan. Und aus diesem Grund wurde in vielen kritischen Situationen viel Bremsweg verschenkt, mit manchmal fatalen Folgen.

Modernisierung und Gemeinsamkeiten

Aber die Juniorpartnerin kann auch sonst noch mehr: Sie hat einen G-Kat, extrem wirksame statt ziemlich lahmer Scheibenbremsen, auch LED-Licht statt der recht müden Halogenfunzel und mit fünf Litern Super braucht sie auch einen guten Liter weniger als die R 100 GS. Dass sie mehr als 200 km/h läuft und die alte Dame maximal auf 180 kam, spielt keine Rolle: Die GS ist seit jeher ein Land- und Bergstraßenmotorrad; Autobahn kann sie zwar gut, aber diesen Straßentypus wählt nur ein Fahrer, dem es gerade schrecklich pressiert. Oder der tausend(e) Kilometer Anfahrt nach Irgendwo zu bewältigen hat, um dort Land- und Bergstraßen zu genießen oder auch Wald- und Feldwege. Daran hat sich seit 1980 nichts geändert.
Manfreds alte Lady hat ein paar Änderungen über sich ergehen lassen müssen. Damit ihr Besitzer zwei gleich große Koffer montieren kann, wurde ihr auf der Fahrerseite hochgelegter Auspuff durch einen tiefer liegenden ersetzt. „Extremere Wasserdurchfahrten muss ich seither halt mit höherem Tempo absolvieren“, scherzt ihr Besitzer. Weil die Komfortansprüche des Besitzers mit den Jahren gestiegen sind, wurde ein recht voluminöser Windschild statt des kleinen Flyscreens montiert. Zwei mächtige Halogen-Zusatzscheinwerfer sorgen schon seit Jahrzehnten bei Dunkelheit für verbesserte Sicht; adaptives Kurvenlicht gab’s damals natürlich noch nicht. Auch das Serien-Rücklicht mit nur einer Glühbirne war Manfred nicht gut genug: „Wenn die Lampe durchbrennt, hast du keine Absicherung nach hinten mehr“, sagt der Ingenieur. Für Leute seines Schlags braucht’s immer eine Rückfallebene. Deshalb trägt seine GS schon seit Jahrzehnten ein etwas klobiges Rücklicht mit zwei Birnchen. Sicher ist sicher…
Es sind also keine dramatischen Modifikationen, die der Besitzer seinem Motorrad verordnet hat. Nach wie vor pendelt die R 100 GS jenseits von 160 km/h ein wenig; Schweißausbrüche und graue Haare kriegt man als Fahrer davon aber nicht. Auch schaltet sich ihr Getriebe nicht wirklich präzise. Und nur selten leise. Als besonders haltbar hat sich das Räderwerk auch nicht erwiesen: Seit 125.000 Kilometern ist das dritte Getriebe im Einsatz. Aber immer noch der erste, ungeöffnete Motor. Zwei wegweisende Neuheiten wies die R 100 GS bei ihrer Markteinführung 1987 auf: Die mit einer Momentabstützung arbeitende Einarmschwinge eliminierte das der alten G/S eigene Auf und Ab bei den Lastwechseln, und die patentierten Kreuzspeichenräder ließen erstmals schlauchlose Reifen und zudem den Austausch gebrochener Speichen ohne Reifendemontage zu. Beide Technik-Finessen trägt auch die Urban G/S von heute; Serie sind die Kreuzspeichenräder allerdings nur bei der teureren 40-Jahre-Edition.

Was man mag darf kosten

Womit wir beim Preis sind. Mit 12.990 D-Mark war die R 100 GS bei ihrer Markteinführung keineswegs ein Billig-Motorrad. Eine 115 PS leistende und 242 km/h schnelle Kawasaki GPZ900R gab’s im selben Jahr für gerade mal 100 Mark mehr. Auch eine Moto Guzzi Le Mans 1000 oder eine Suzuki GSX-R750 lagen in dieser Preisregion. Die R nineT Urban G/S von 2021 kostet als schwarz-gelbe Jubiläums-Edition inklusive der Kreuzspeichenräder 16.200 Euro; mit Comfort-Paket (u.a. Tempomat, Heizgriffe, etc.), adaptivem Kurvenlicht und Diebstahlwarnanlage kommt sie auf 17.265 Euro. Die Freude, den letzten luft-/ölgekühlten 1200er-Boxermotor fahren zu können, ist inklusive. Denn genau das macht die Faszination der im Biene-Maja-Kostüm daherrollenden Pseudo-Reiseenduro aus: Der einmalige Antrieb. Druckvoll, charakterstark, einfach dolle. Manfreds R 100 GS, in Ehren – nein nicht ergraut – gehalten und deshalb trotz ihrer vielen, oftmals harten Kilometer sehr gepflegt, ist dagegen ein echter, wahrhaftiger Oldie: rau, herzlich, ehrlich. Trotz ihrer „nur“ 60 PS ist sie objektiv absolut schnell genug: 4,8 Sekunden für den Spurt aus dem Stand bis Tempo 100 stehen im Datenblatt. Natürlich kann die fast doppelt so starke Örben-G-Strich-S das mit 3,6 Sekunden besser. Aber es kommt weder bei der einen noch bei der anderen auf Höchstleistung an; beide sind Genießer-Motorräder. Die eine seit fast 35 Jahren, die andere eben von heute mit starken Anklängen an das Gestern. Man kann sie beide mögen. Nein, man muss sie mögen!

Text und Fotos © Ulf Böhringer

Technische Daten BMW R nine T Urban G/S

Motor: Luft-/ölgekühlter Zweizylinder-Boxermotor, 1170 ccm Hubraum, 80 kW/109 PS bei 7.250/min., 116 Nm bei 6.000/min; Einspritzung, 6 Gänge, Kardan.
Fahrwerk: Stahl-Gitterrohrrahmen, Motor mittragend; vorne Telegabel ø 43 mm, 120 mm Federweg; hinten Aluminiumguss-Einarmschwinge (BMW Paralever), WAD-Zentralfederbein, Vorspannung stufenlos einstellbar, 145 mm Federweg; Aluminiumgussräder; Reifen 120/70 ZR 17 (vorne) und 180/55 ZR 17 (hinten). 320 mm Doppelscheibenbremse vorne, 265 mm Einscheibenbremse hinten.
Assistenzsysteme: Kurven-ABS mit dynamischer Bremskontrolle DBC ,zwei Fahrmodi, automat. Blinkerrückstellung (a.W. Fahrmodi Pro mit zwei Settings, dyn. Traktionskontrolle und Motorschleppmomentregelung MSR, Temporegelung, adapt. LED-Kurvenlicht).
Maße und Gewichte: Radstand 1487 mm, Sitzhöhe 850 mm, Gewicht fahrfertig 221 kg, Zuladung 209 kg; Tankinhalt 17 l.
Fahrleistungen: 0-100 km/h ca. 3,6 s, Höchstgeschwindigkeit über 200 km/h. Normverbrauch lt. EU5 5,1 l/100 km. Testverbrauch 5,0 bis 5,2 l/100 km.
Preis: ab 13.750 Euro zzgl. Nebenkosten, Preis Testfahrzeug ca. 18.415 Euro.